ATEMOBJEKTE

Vor 22 Jahren, im Jahre 1964, begann ich mit den ersten Arbeiten, die von dem Phänomen Atmen ausgingen. Es handelte sich damals um Musik. Realisierungen von Atem, umgesetzt in Musik, Sogenannte Atemmusiken, bei denen entweder das rhythmische Element des Atmens, das ständige Auf und Ab formal bestimmend für den Musikablauf war (in einem Orgelstück wurde dies damals realisiert durch einen sogenannten Schweller, ein Mittel, die Musikstruktur, die sich ständig leicht veränderte, in der Lautstärke ganz kontinuierlich an- und abschwellen zu lassen) oder es wurden verschiedene Klangfarben des Atmens verwendet, von einem Bläseroktett gespielt, wie ein Strömen von Hauchen, Blasen, Pfeifen auf vielerlei Rohren, Instrumenten und Mundstücken. Ich ging dann über zu visuellen Durchformungen des Atemrhythmus mit aufblasbaren Ballons, aus denen die Luft wieder entwich und dann zu den mechanisch gesteuerten Fellobjekten, die noch heute ein wesentliches Element meiner Arbeiten sind. Aus der Entstehungsgeschichte werden gleich ablesbar: die zwei Komponenten des Atmens, die akustische und die visuelle, auf die ich später in der Beschreibung des Zusammenwirkens von Geräusch und Environment eingehe. Gewandelt hat sich indes, seit der Zeit der Entstehung dieser ersten Objekte bis heute, wesentlich der geistige Hintergrund und die Bedeutung, die Atmung und Bewegung in den Objekten für mich hat. Die Beschäftigung mit dem Atmen als künstlerischem Element war zu jener Zeit Ausdruck einer fast neurotisch zu nennenden Atemempfindlichkeit, die mich infolge eines Halsleidens ständig aufmerksam machte auf das Atmen, wo jede Aufregung, jede körperliche Anstrengung mir durch Atemschwierigkeiten das Atmen bewußt machte. Das traf zusammen mit meiner damaligen Uberzeugung von der Möglichkeit, alle organischen Prozesse des Körpers künstlich durch Chemikalien, Drogen etc. zu steuern, und daher meiner Neigung, mich selbst durch Einnahme auf diese Art zu beeinflussen, um alle Unvollkommenheiten der eigenen Natur gewissermaßen nach Belieben auszugleichen: Müdigkeit, wenn man eigentlich arbeiten sollte, Wachheit, gerade, wenn man nachts schlafen will, schlechte Laune, wenn die Notwendigkeit da ist, mit irgend jemand zu kommunizieren etc. Es entstanden von daher gesehen (gewiB auf dem Boden des Unbewußten, aber als Ausdruck meiner Person), technisch produzierte Organismen, deren Faszination im Atmen lag, im Ablauf, in den Pausen, in der Langsamkeit, wechselnd mit schnellen Phasen, wie es eigentlich kein menschlicher Bauch vermag. Das Arbeiten mit den Atemobjekten, das Verändern von Zusammenhängen in bezug auf Lage, Ort und Situation zeigte mir dann bald, daß sich ihr Charakter völlig verändern konnte, daß die Objekte zugrundsätzlichen Symbolfiguren für bestimmte Lebenssituationen oder gewisse Ängste wurden. Auch, daß sie gleichzeitig ihre Umgebung verändern: Kienholz montierte ein Atemobjekt in die Ecke in seinem Bordell-Environment. Ich habe diese Erfahrungen damals folgendermaßen notiert: »Eigentlich war das Gitter des Kinderbettes nur als Schutz gedacht, damit sich niemand auf das liegende atmende Wesen setzt aber dabei entdeckte ich, daß das Objekt plötzlich einen ganz anderen Charakter annahm: etwas ganz unziemlich Bedrohliches, Gewalttätiges ging von ihm aus... « — Es war die Entdeckung, daß Atemobjekte sich wesentlich verändern je nach dem Ort, an dem sie sich befinden. Objekte, die mitten auf der Wand verhältnismäßig abstrakt, allenfalls »submarin« sind, scheinen, auf einer Kante sitzend, beflügelt; und leicht erschreckbar flattern sie vielleicht gleich wieder davon. In der Ecke oder im Winkel sind sie häuslich verborgen, manchmal etwas Iauernd, auf einem Baumstamm hockend werden sie zu Parasiten, auf dem menschlichen Körper, womöglich am Hals, können sie Entsetzen verbreiten wie eine böse Geschwulst.

Dabei wird die Vieldeutigkeit keineswegs eingeschränkt, sondern sie gewinnen an Rätselhaftigkeit, da eine Komponente auftritt, die dem durch die Bewegungsform erzeugten Charakter eher entgegengesetzt ist. Die ursprünglich »allgemeinen Metaphern organischen Lebens« werden jetzt zu Metaphern des parasitär Wuchernden oder des gefangen Leidenden (im Käfig) oder des gewalttätig Usurpierenden (Kinderbett) etc. Die Gegenstände, der Ort, der Raum werden Teil einer Aussage. Es gab sich mir mit den Atemobjekten die Möglichkeit, eine Vielfalt von Umwelterfahrungen und -problemen künstlerisch zu formulieren. Lebten die früheren Atemobjekte immer auch wesentlich aus dem Gegensatz von Künstlichkeit und Natürlichkeit, auch in der Konfrontation des Objektes mit dem Umfeld, gewissermaßen mit der zivilisatorischen Umwelt, so ist in den letzten Jahren ein merklicher Wandel zum Organischen und zur Harmonisierung eingetreten. Diese Entwicklung läuft parallel mit der Entwicklung der Grasmatten, deren Entstehung ich später beschreiben werde und der Entdeckung alter Atemtechniken. (Im Dienste der Mystik und meist nur geheim überliefert, sind im Laufe der Jahrhunderte spezielle Atemtechniken entwickelt worden, die in ihrer Wirkung an die von psychedelischen Drogen heranreichen und ungeheure Möglichkeiten der Selbster-fahrung und Bewußtseinsausweitung erschheßen.) Symptomatisch für eine Harmonisierung und gewisse Umorientierung ist u.a. in letzter Zeit die Tendenz zur Integrierung von Atemobjekten in Mandala-haften Formen. Mandala ist ein Wort aus dem Sanskrit und bezeichnet den magischen und rituellen Kreis, der als solcher, angefangen bei steinzeitlichen Felszeichnungen, in allen Völkern und Kulturen auftaucht: in den indianischen Erdzeichnungen, in den komplizierten Ausformungen der Lamaistischen Kosmogramme bis hin in unserem Kulturkreis zu den Rosettenfenstern mittelalterlicher Kathedralen. Auch Kirchengrundrisse und Kirchenlabyrinthe (Reims, Chartres) sind als begehbare Mandalas (als Heilsweg) anzusehen. Mandalas sind Einheitssymbole: Der einfache Kreis im Za Zen gilt als Ausdruck der Totalität des Universums wie dessen äußerster Leere. Jenseits persönlicher Triebund Phantasiewelt sind sie eine transpersonale Erfahrung höherer Ordnung und Harmonien. In alternativen Bewußtseinszuständen kön nen sie in individueller Ausprägung z.B. als pulsierende, räumliche, ringförmige Strukturen erfahren werden. Die Verwendung von Atemobjekten in Mandala-Strukturen entspricht ein wesentlicher Bedeutungswandel: Die Bewegung ist nicht mehr nur organisch-tierhaft zu sehen, sondern steht in einem Kontext, in dem sie magisch transzendental verstanden werden muß.

Über die Bedeutung des Atmens

Wegen des Einflusses, den das Vertrautwerden mit Atemtechniken auf mich ausgeübt hat, ich meine damit besonders die Erweiterung von Erfahrungsbereichen, aber auch das Ablösen von chemischen Mitteln zur Beeinflussung von Körperfunktionen und damit einer weitgehenden Veränderung meiner Lebenseinstellung, will ich hier den Bereich dieser Atemtechniken und die Bedeutung des Atmens streifen. im Anschluß an die von mir bei Hennemann als Taschenbuch veröffentlichte Dokumentation über die Möglichkeiten, mit Psychopharmaka Körper und Psyche zu steuern, sowie elektrische (Schrittmacher, Hirnstimulierung), operative (Hirnoperationen, Geschlechtsumwandlung) und biologische Methoden (Genmanipulation), will ich hier über Methoden sprechen, die zum Teil das gleiche auf »natürliche« Weise bewirken und damit, als wesentlichen Punkt, all die negativen Nebenerscheinungen nicht aufweisen, die z.B. Psychopharmaka und Drogen so fragwürdig machen. Neben einer Steuerbarkeit des Lebens durch ChemikaIien gibt es gewissermaßen eine Steuerbarkeit durch Atemtechniken, wobei dahingestellt bleiben soll, wieweit durch letztere eine endogene Chemikalienproduktion angeregt oder gedämpft werden kann.

1. Wenn sich der Atem von unten nach oben kehrt, und dann wiederum, wenn er sich von oben nach unten kehrt — durch diese beide Wendungen, erkenne!
2. Oder, wann immer der einströmende Atem mit dem ausströmenden Atem zu sammenfließt, in diesem Augenblick berühre das energielose, energieerfüllte Zentrum.
3. Oder, wenn der Atem ganz draußen ist, oder ganz drinnen, und von allein stillsteht - in solcher einer universalen Pause verschwindet das eigene kleine Selbst. Dies ist schwierig nur für den Unreinen.
4. Mit äußerster Hingabe zentriere dich auf die beiden Verknüpfungspunkte des Atems und erkenne den Erkennenden. Sutren aus "Vigyana Bhairava Tantra" 3000 v. Chr.)
Es ist grundsätzlich zu unterscheiden, einerseits zwischen den Methoden, bei denen das Atmen ein Hilfsmittel ist, sich zu konzentrieren, ein Beobachten bestimmter Prozesse des Atemverlaufes, gewissermassen ein Entlangtasten am Atmen, wobei Atmen auch immer symbolisch gesehen wird: Jeder Atem, der nach außen geht, ist ein Tod, und jeder neue Atemzug ist eine Neugeburt — einströmender Atem ist Wiedergeburt, ausströmender Atem ist Tod. ― Hilfsmittel zur Wendung nach innen und zur Veränderung zum seelisch geistigen Wachstum. (Tantra und Zazen) lm Gegensatz dazu stehen Methoden, bei denen ein aktives Einwirken auf den Organismus und die Psyche angestrebt wird durch gesteuertes Atmen. Wobei speziell Joga-Atemtechniken davon ausgehen, daß atmen nicht nur Aufnehmen von Sauerstoff und Luft, sondern auch Aufnehmen einer Lebensenergie ist; die Atemluft auch wesentlich Träger dieser speziellen Lebensenergie ist (Wilhelm Reich nannte sie Orgon), die durch Gedanken und Willen während bestimmter Atemrhythmen gestaut und damit ruhend, in beliebige Bereiche des Körpers gelenkt werden kann. Atmen wird systematisiert für gezielte Energieflüsse, zur Vltalisierung, Energieaufladung und Gesundung. Weitgehend im Dienste der Mystik und meist nur in Geheimschulen überliefert, standen früher der Hyperventilation ähnIiche Atemtechniken. (Hyperventilation=Schnellatmung). Eingefiochten in religiöse Riten, aus Gebeten und Gesängen sich entwickelnd‚ durch Rhythmisierung und Verstärkung des Atemanteils an der Sprache, sind sie noch heute in mohammedanischen Klöstern verbreitet als Mittel für spirituelle Erfahrungen oder das, was wir heute transpersonale Erfahrungen nennen. Es gehören dazu ungewöhnliche Energetisierungen, Lichterscheinungen (das innere Licht), Ganzheitserfahrungen mit dem Kosmos: Einheitserfahrungen, Erleben von unbekannten Mythen etc., Erfahrungen, die über die Möglichkeiten persönlicher sinnlicher Wahrnehmung hinausgehen und Zugang zu tieferen Bewußtseinsschichten (dem normalerweise Unbewußten) öffnen. Beispiele dieser Atemtechniken sind auf der einem Teil der Auflage beiligenden Tonkassette aufgezeichnet: gewissermas sen eine Einübung in Mystik unter Anleitung eines Sufis. (Sufis sind Mitglieder mystisch religiöser Orden im Orient). Anfangend mit Rhythmisierung des Sprechens (die Anrufung Allahs erfolgt rhythmisiert AI-Ia-ha), verselbständigen sich die Atemrhythmen zusehends, verändern sich, bekommen bald die Färbung von Trommelrhythmen und steigern sich schließlich zu beängstigenden Exzessen des Keuchens und Hechelns, um dann, nach Überschreiten des nicht mehr Steigerbaren, fast plötzlich zu versiegen. Schluchztechniken der frommen Beginen (Klosterfrauen im benachbarten Holland) dienten dem gleichen Zweck. Es gehört sicher zur allgemeinen Erfahrung, wie unsere Emotionen die Atemtätigkeit beeinflussen. Wie Aufregung das Atmen beschleunigt und Ruhe es verlangsamt, so ist durch den umgekehrten Vorgang, das Beschleunigen des Atmens, eine Aktivierung der Gefühlstätigkeit oder durch Verlangsamung eine Beruhigung zu bewirken.Untersuchungen von Lowen zeigen, daß es auch eine Selbstschutzfunktion des Körpers gibt, die Gefühle »abwürgen« kann, indem sie den Hals zuschnürt bei einem unerträglichen Übermaß an auftretenden Ängsten oder Gefühlen. Auch, daß man unangenehme Gefühle verhindern kann durch reduzierte Atmung. (Wer wenig atmet, fühlt wenig). (Lowen). Wie andererseits Schnellatmung (Hyperventilation), unbewußt oft als Schockfolge bei Unfällen, bewußt eingesetzt, zunächst oft eine ungeheure Freisetzung von früher unterdrückten Gefühlen bewirkt, dann aber eine starke Empfindungssteigerung hervorbringt mit euphorischen Wirkungen. Atmen wird dort wesentlich als Ausdruck der Kommunikation mit der Umwelt ge-sehen, und Störungen (Verlangsamung) des Atmens sind Abbild der Störungen die-ser Kommunikation und des Verhältnisses zur Umwelt. Erkenntnisse dieser Art und die Begegnungen mit den Atemtechniken der Mystiker haben inzwischen einen breiten Niederschlag gefunden in Atem-Therapieformen, die erfolgreich operieren, angefangen bei den seit langem bekannten Read’schen Atemübungen bei Schwangeren bis hin (in Verbindung mit anderenPsychotherapeutischen Verfahren) zur Behandlung von Depressionen, psychosomatischen Erkrankungen, Neurotisierungen etc. Dabei liegt sicher die besondere Bedeutung der Atemmethoden in den Möglichkeiten, nach dem zunächst erfolgten Abstreifen wesensfremder Einflüsse, Programmierungen und Einengungen — gewissermaßen einem Aufarbeiten der eigenen Realität —, zur Erweiterung der eignen Wahrnehmung und zur Vertiefung des Selbst- und Existenzverständnisses zu kommen.
Katalog "Atemobjekte Weseler", Copyright Draier Verlag, Haun und Hitzelberger GmbH, gedruckt in Deutschland, 1986)

Erfahrungen im Umgang mit Atemobjekten und der Symbolg ehalt der neueren Spiegelobjekte

Neben den während der jahrelangen Arbeit mit den Atemobjekten gemachten Erfahrungen über die gegenseitige Beeinflussung von Objekt und Umfeld, brachte der häufige Kontakt mit Betrachtern und Interessenten überraschendende Einsichten der sehr unterschiedlichen Rezeption meiner Arbeiten. Diese entsprach meist meiner eigenen Intention bei der Herstellung der Arbeiten sehr wenig und lief ihr häufig extrem zuwider. Ich merkte, daß Beurteilungen, Assoziationen und Emotionen (z.Teil sehr heftiger Art) mehr Projektionen des Betrachters und eher ein Schlüssel zu SEINER Psyche waren, als daß sie einer Realität des Objektes, (wenn es sie überhaupt gibt) zumindest wie ich sie sah, entsprach. Zu den Reflektionen und Fragen warum ICH bestimmte Sachen machte, kamen die Fragen: wie wurde das von der Umwelt aufgenommen und verstanden und führte zu der grundsätzlichen Problematik des VERSTANDEN WERDENS des Künstlers. Konzentriert ausgedrückt sehe ich das so: Die Objekte verändern sich durch das sie umgebende Umfeld und umgekehrt verändern sie das Umfeld. Der Betrachter versteht. das Betrachtete immer aus seiner speziellen Sicht. Sein individueller Hintergrund, seine Energiebasis (positiv-negativ), seine "Deformationen", wie bei einem Spiegel (konvex oder konkav), beeinflussen seine Sichtweise. Exemplarisch das Beispiel Brotobjekt, wo die individuellen Interpretationen reichten vom empörten "hier wird das Brot geschändet (bezeichnend fiir eine Generation fiir die das Brot noch "heilig" war), bis zu freudiger Zustimmung: "Das ist ja wie die Made im Speck und so fhle ich mich selber"... "Whatsoever you see around you is more a reflection of you than any real thing there. You look at yourself mirrored all around. The moment you change, the reflection change." (Osho) Ich meine, es war das Erkennen dieser Verschiedenen Realitätsebenen, einer materiellhaptischen, einer individuell-psychischen und einer reflektiert-gespiegelten, die alle ineinandergreifen‚ sich überlagern und nicht voneinander zu trennen sind , die zu den neueren Spiegelobjekten gefiihrt haben. Die Spiegel sind teilweise transparent und gestatten den Blick auf etwas, was hinter dem Glas liegt, das aber nicht genau definiert werden kann, ob es ein reales Material ist oder z.B ein Foto, weil man es nicht berühren kann. Auf und vor dem Spiegel befinden sich Verschiedene Materialien z.B. Glas, Sand, Federn und häufig ein atmendes Fell-Objekt. Und der Betrachter sieht sich selbst in seinem Umfeld und im wechselnden Licht.... Es war die Wiederaufnahme und Erweiterung einer Thematik, die u.a. in den Spiegelobjekten von 1977 ( I12 /77, 30 Expl. ) realisiert wurde : Die Kombination eines Atemobjektes mit einem Spiegel. Das halbkugelige Atemobjekt (real haptisch) wurde durch die Spiegelung zur Vollkugel. Die Spiegelobjekte reflektieren auch eine Auseinandersetzung mit der Frage was ist Bewußtsein, mit alternativen Bewußtseinszuständen wie Trance, Hypnose, Träumen und Meditation . Die spiegelnde Oberfläche symbolisiert den reflektierenden Verstand, dahinter liegt wie beim Wasser die Tiefe... (s. Einzelthema: Das Wasser — Bewußtsein) Sie sind zu verstehen als Realisierung der EINHEIT und des Gleichgewichts dieser verschiedenen Realitäten, der haptisch-sinnlichen und der virtuellen, ihre gegenseitige Beeinflussung und Abhängigkeit und ihre subjektive Erfaßbarkeit. Der Betrachter ist immer mit drin. Sie haben auch zum Inhalt das fraktale Element: Die Gesetze und Bausteine im Kleinen sind die gleichen wie die im Großen. (Katalog "Im Zentrum des Zyklons - Die Stille", Copyright Dreier Verlag, Haun und Hitzelberger GmbH, gedruckt in Deutschland, 2001)

GÜNTER WESELER

Es ist heute nicht einfach, inmitten der hochindustrialisierten Stadtlandschaft am Rhein noch ein Fleckchen zu finden, wo sich die Füchse gute Nacht sagen. Günter Weseier, ein Künstler eigenartiger, meist zottiger "Atemobjekte", hat es in Niederlörick, einem dörfischen Vorort der sonst eher snobistischen nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt Düsseldorf gefunden. Die Kühe, deren Domizil er jetzt innehat, wurden durch Schafe und Katzen ersetzt. Ihr Leben jedoch, das zu pulsieren scheint, treiben Motoren an. Weselers Kunst sieht der Tierwelt zum Verwechseln ähnlich. Doch die Objekte sind lediglich abgezogene Felle. Das Atelier gleicht besonders in den Abendstunden einem Gruselkabinett. Der 43jährige Ostpreuße aus Allenstein, dessen Großeltern noch einen Bauernhof betrieben, hat die Tiere in die moderne Kunst hinübergerettet. Nicht als "röhrende Hirsche", die in Deutschland als Inbegriff fürfalsch verstandene romantische Gefühle gelten, sondern als "organische Kinetik", wie Weseler seine struppige Fellkunst tituliert. Angefangen hatte er allerdings in althergebrachten Spuren. Mit seiner Mutter, einer regional bekannten Malerin und Pianistin, pinselte er um die Wette an gegenständlichen Landschaftsbildern. Durch "KünstIer-Tips" und Atelierbesuche vorerst im nordfriesischen Niebüll, wo die Familie nach dem Krieg lebte, bildete sich Weseler junior seine ersten autodidaktischen Erfahrungen. Ganz scheint er ihnen jedoch nicht getraut zu haben, denn nach dem Abitur ließ er sich bei einer Rundfunkfirma mit angeschlossenem Tonstudio zum Rundfunkmechaniker ausbilden und beendete die Lehre mit dem Gesellenbrief. Diese technischen Grundlagen, die er sich hier erarbeitete, sollten ihm noch von großem Nutzen werden, denn in den 60er und 70er Jahren begann er mit dem Komponisten Dieter Schönbach experimentelle Opern zu inszenieren. Doch davon war zunächst wenig zu spüren, als er sich 1952 vollends der Welt der Technik verschrieb und an der Technischen Hochschule Braunschweig für sechs Jahre Architektur studierte und mit dem Diplom endete. Nebenbei griff jedoch der Hobbymaler immer häufiger zum Pinsel und eignete sich malend die Kunstströmungen der letzten Jahrzehnte an. Die dörfischen ldyllen voller Zartheit und Geschmacksicherheit wichen mitsamt dem schwindenden Einfluß der mütterlichen Malweise. Weseler wandte sich zeitweilig dem Phantastischen zu, ein Hang, dem er auch in den 70er Jahren noch manches Mal verfallen sollte, wenn er "quellende Puppen" als Schocktheater schuf oder auf angeschwemmten Baumstämmen "Wucherungen" montierte. Den Kubismus holte er sich in Häuser-Staffelungen aufs Papier, repetierte tachtistische Bewegungsabläufe mit dem Spachtel und näherte sich organischen Assoziationen, abstrakten Bildern, die immer zugleich an Sex erinnerten. Weitere Anklänge gelten, um 1958, der seriellen Kunst, wobei Weseler die strenge Ordnung in einem dynamischen Pinselfurioso stört, verwischt, rhythmisiert. Statisches tritt neben Kinetisches. Eigentlich würde es sich erübrigen, die einzelnen Phasen dieser Weselefischen Pinselkunst zu verfolgen (denn Weseler ist nicht als Maler bekannt geworden), wäre da nicht derjunge experimentierfreudige Dieter Schönbach, der dem Maler über die Schulter schaute und in den Lineamenten der Spachtelrückstände chromatische Darlegungen von schöner, lyrischer Zartheit entdeckte. Weseler nahm den Impuls des Musikers auf, fing selbst an, "optisch zu komponieren", wie er es sagt, und seismographische Lineamente, Punktstrukturen und Cluster zu entwerfen, die Schönbach in "konventionelle Notierungen" für Musikinstrumente umsetzte. Die Annäherung von Musik und Malerei in den der Musik naheliegenden graphischen Partituren konnte jedoch nur möglich werden durch zeitlich genau fixierte graphische Abläufe. Das Moment der

Zeit, bis zum Beginn der Kinetik in der Kunst immer als Problem erachtet, löste sich in den rhythmischen Ordnungen, die Weseler auf lange Papierrollen notierte und als kontrapunktische, parallele, kreisende, schlingernde Bewegungen ablaufen ließ. Als akustischen Ausdruck nahmen Weselers graphische "Partituren" jenes "organische Leben" voraus, das er kurz darauf in seinen "Atemobjekten" entdecken sollte: Auch sie scheinen zu atmen, auf- und abzuschwellen. 1962/63 entstand erstmals dieses "Atmen für Töne", wie Weseler es nennt, wobei der Organist Gerd Zacher aus Weselers Strukturen Orgelklänge herauslas, die langsam an- und abschwellten, in vielfältigem Wechsel. 1964 ist diese "Atemmusik" vollends ausgebildet, etwa in den grafischen Partituren Weselers zu Dieter Schönbachs "Hoquetus für acht Bläser". Von der "Atemmusik" zu den "Atemobjekten" ist es im Grunde genommen ein kleiner Schritt, wenn auch ihre Venrvirklichung vom grafischen Lineament meilenweit entfernt liegt: Weselers Bilder, zunächst den feinen Verästelungen des Waldes abgeschaut (Weseler lebte damals in der Nähe des Harzes), nehmen größere rhythmische Ordnungen an, erscheinen schließlich "fuselig", wie Weseler sie selbst beschreibt, erhalten körperhafte, organische Züge, assoziieren erogene Zonen des menschlichen Körpers mit glatter oder behaarter Haut, werden vollends "Skulpturen", behaarte, bronzierte Wachsklumpen, auf Küchenbretter montiert; und beginnen zu atmen. Den ersten Atemobjekten, "atmenden Ballons" von 1966, mit Preßluft aufgeblasene Kunststoffkugeln größeren Durchmessers (etwa zwei Meter) ging jedoch schneller die Luft aus, als es Weseler lieb war. Die Luft ließ sich eben nicht programmieren, die Prozedur des Aufblasens nach dem Zusammensinken der Körper war zu umständlich. Weseler mußte nach Atemobjekten anderer Art suchen. Ob er sich wirklich auf die "Suche" machte, ist zu bezweifeln. Aber wichtig ist, daß er sie fand, und zwar im eigenen Bett, ganz zufällig! Inmitten seiner urigen Umgebung pflegte sich Weseler (und tut es noch heute) auch urig zu bedecken. Er benutzt als Bettdecke Felle. Und eines Tages muß er dann wohl seine strampelnden Füße und Arme unter dieser Felldecke beobachtet haben, wie sie auf der Oberfläche die vielfältigsten Bewegungen entstehen ließen. Weseler ließ von nun an pneumatische Dinge ebenso wie Pinselwerke links liegen und wandte sich mit wahrer Besessenheit seiner "Atemkunst" zu. Seitdem weiß er die verschiedensten Zottelhaare zu unterscheiden. Jugoslawische und isländische Felle sind ihm neben denen aus der Lüneburger Heide am liebsten. Er entdeckte in einem benachbarten Ort einen Kaninchen-Fan, der die seltenen Rex-Kaninchen züchtet und der ihm die abgezogenen Felle überläßt. Für diese lang- oder kurzhaarigen, braunen, weißen oder grauen Felle galt es nun, je wechselnde Bewegungen zu finden. Mit architektonisch geschulter Genauigkeit tüftelt Weseler jetzt an Polar — Koordinaten, überträgt die Bewegungsdiagramme auf kartesische Koordinaten und biegt danach seine Steuerscheiben, primitiv anmutende Metallrundungen, die mittels kleiner Motoren von einem Hebel abgetastet werden, der wiederum die Bewegungen aufs Fell überträgt. Die so entstehenden Bewegungsformen bringen in Verbindung mit Geschwindigkeit, Geschwindigkeitsänderungen und Rhythmus einen wechselnden Ausdruck, den der Künstler immer organisch verstanden wissen will, wenn er 1966 sagt: "Ein Zittern kann je nach Durchformung und Ablauf wirken wie ein schüttelndes Gelächter oder erotisch stimulierend, orgasmisch oder wie das Zucken der Agonie. Bei bestimmten Rhythmen ergibt sich durch Übereinstimmung mit der menschlichen Atmung ein Meditationszwang." (Vortrag Kunsthalle Düsseldorf 1966, Kunstverein Hannover 1967, u. a.)

Was seine Objekte in der Kunstwelt bekannt gemacht hat, ist die Dualität zwischen Leben und Verfall, die sich hier artikuliert: pulsierendes Leben in abgezogenen, allmählich verstaubenden Häuten. Weseler begleitet sie zuweilen mit Geräuschen von Cykaden oder Kinderratschen, umgibt sie mit unalltäglichem Milieu wie einem Kinderbett, in dem sie wie ein Ungeheuer der Gewalt erscheinen, steckt sie in einen Vogelkäfig, als Ausdruck des Gefangenseins, oder hängt sie dicht nebeneinander, den Eindruck des Wucherns suggerierend. Das Urige entpuppt sich dabei immer auch als degeneriert. Weseler weist im nachhinein darauf hin, wie er sich mit Hilfe von Chemikalien noch im Elternhaus in besondere Stimmungen zu versetzen pflegte, Zustände des Wachens und Schlafens durch Hormone und Drogen künstlich steuerte und schließlich 1950 in ein Krankenhaus zur gründlichen Untersuchung geschickt wurde, um festzustellen, ob es etwa irgendeine Bewandtnis mit dem Jungen hätte, wie die Eltern fürchteten. Die künstliche Steuerbarkeit sollte hinfort auch seinen Atemobjekten ein eigenartiges Leben einflößen. Weselers Objekte begannen, zu großräumigen Environments zusammenzufinden. 1969 hat er im Leverkusener Museum im Rahmen einer Themenausstellung unter dem Titel "Räume" eine große künstliche Landschaft entstehen lassen, voller Vergangenheit und Gegenwärtigkeit, heimlich und unheimlich, abstrakt und organisch zugleich, eine "nachmenschliche Landschaft", wie er sagt, ein Terrain "nach einer Explosion": Im schwarz ausgeschlagenen Schloß-Zimmer lagen auf "schlackigem" weichem Schaumstoff verbrannte Bäume mit schwarz-grauen Gummischlangen, ein Kratergebilde aus elastischem Luftballon-Gummi (Präservativmaterial), stachelige Schaumobjekte, alles atmend, aufblähend und zusammensackend, von blubbernden, knarrenden oder rasselnden Geräuschen begleitet. Seine Aktionen evozieren mehr noch als seine Objekte den Schock. Er steht hierbei in Zusammenarbeit mit den Musikern einem Theater der Grausamkeit nahe. Seit 1968 durchbohrt er im wahrsten Sinn Schaufensterpuppen und kippt in ihr Inneres neben einer "Misch-maschine" eine chemische Flüssigkeit, die jenen Polyurethan-Schaum entstehen läßt, der sich quellend über die Puppe ergießt und eine "Katastrophe" vermuten läßt. So hat er 1969 an einer lebenden Frau eine "Halsgeschwulst" anbringen lassen. Eine sich bewegende "Badehaube" in einer Schüssel scheint davon zu künden, daß eine daruntesteckende Schwimmerin ihre letzten Züge aushaucht. Einer mit Fell beklebten Puppe, die er auf dem Pariser Flohmarkt erstand, baute er eine Maschine in den Kopf, so daß das einst liebe Spielzeug irre Züge annimmt. Bei den Edinburgher Festspielen 1970 arrangiete er, wie zuvor im Göttinger Kunstverein, ein "Atembanquett", bei dem den Gästen das Essen im Halse steckengeblieben sein dürfte: auf einem Holztisch präsentierten sich die Gaben: plusternde Rex-Kaninchen in Tonschüsseln, Brote, aus denen Tiere atmeten, ein skurriles Abendmahl, von Cykadengeräuschen begleitet, die nach Weselers Worten die "erotische Spannung der Objekte" intensivieren sollte. Den PU-Schaum seiner Schaufensterpuppen wiederholend, ließ er auch noch aus Schweineköpfen, auf einer mit weißem Leinen drapierten Couch liegend, häßliche graue Masse quellen. ln letzter Zeit hat Weseler jedes Ding, das ihm in die Hand kam, auf seine Weise verfremdet: Aus einer Kaffeetasse ebenso wie aus einem Schmuckkästchen und einer angespülten Eisentonne, aus einem Ausguß (in der Kölner Dokumentation moderner Kunst, der Ausstellung "Jetzt" 1969) in Kartoffeln und Brot, unter Tüchern, in Ecken, auf Kanten, in Winkeln atmet und ruckt, quillt und zuckt es. ln großen "Atemwänden" (erstmals 1968 für die Kieler Oper "Die Geschichte vom Feuer") aus dichten Reihungen von Schaumstoffkegeln, wie man sie als Schallschluck-Material für Radarräume gebraucht, werden Bewegungsrhythmen übertragen, die die eigentlich strenge Ordnung an der Wand in einen Organismus verwandeln. Eine Synthese entsteht aus Künstlichkeit und (scheinbarem) Leben. Neuerdings hat er seine ÜbenNucherungen auch auf die Fotokunst übertragen, die er allerdings ebenfalls verfremdet. Er fotografiert nackte Schönheiten, beklebt die Aufnahmen mit Ungeziefer- Abbildungen, ätzt die so collagierten, abermals fotografierten Blätter und schafft schön-schaurige Parasiten. Weseler vertritt in gewisser Weise eine "deutsche" Variante der Kinetik, die sich nicht mit einem Maschinenhymnus in der Art von Tinguely begnügt; er liebt auch nicht das sinnenverwirrende Raffinement des Lichtkinetikers Schoeffer. Seine organische, animalische Kinetik ist der Meditation benachbart; sie kennt die Verletzlichkeit des Lebens, die Vergänglichkeit im Tod, die Anwesenheit unsichtbarer Wesen, die Unheimlichkeit, aber auch den Scherz, den Spuk, die Groteske. Sie ist eine künstlich erschaffene Menschliche Komödie, mit allem Irrwitz heutiger "Menschlichkeit". Helga Meister (Ausstellungskatalog "Günter Weseler", Museum Wiesbaden, Dezember 1974 - Januar 1975)

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